VERTIKALE SICHT
6 Samedan ist ein Dorf im Oberengadin. Da bin ich aufgewachsen. Zehn Minuten zu Fuss von unserer Wohnung war der Flughafen. Dort war ich oft, denn dort war Ueli Bär- fuss, der Helikopterpilot – der Retter der abgestürzten Bergsteiger, der Versorger der Kraftwerkbaustellen, der Wasserwerfer auf brennenden Wald und der Lieferant der SAC-Hütten mit Holz, Makkaroni und Milch. Eines Tages in den späten Sechzigerjah- ren sprach er: «Gut, Bub, in Gottsnamen, steig halt ein». Er schnallte mich neben sich auf den Sitz und stülpte mir einen «Peltor» über die Ohren. Dann liess er den Flügel seines Helikopters rotieren, und wenn der Krach laut genug war, hob die Glaskugel auf Schlittenkufen mit dem filigranen Schweif ab. Vor- und zurückschaukeln. Bald waren wir in den Lüften bei den Vögeln. Und immer kleiner unten Samedan – unser Haus an der Bahnhofstrasse, klein; die Kirche von St. Peter, munzig; der Golfplatz, ein grüner Flecken; die Strassen wie Schnüre und der Eisenbahnzug, so gross wie meine Modell- eisenbahn. Bei der Tschiervahütte lud der Helikopter ab und auf, ohne zu landen. Wieder staunte ich, wie die Hütte schnell kleiner wurde, im Rhythmus schwankten wir hin und her über Firn und Eis, unter uns die Steine und der Schnee, das letzte Gras und der Fels als grosse, monochrome Farbflächen, die ineinander aufgingen. Und bald schon wur- den aus den Schnürlein am Boden wieder Bäche, rassig ging es nieder auf den Platz vor dem Hangar – und mein erster Flug war Geschichte, mein erster Vogelblick war in meinem Gedächtnis, das Wissen um die Unterschiede von oben und unten in meiner Erfahrung. Andreas Busslinger ist auch ein Flieger, aber sein Beruf ist anders als der von Ueli Bärfuss. Er rettet keine Alpinisten und versorgt ihre Hütten mit kühnem Flug, er wirft kein Wasser ab und er transportiert keine verlorenen Kühe durch die Lüfte – er ist ein Forschungs- und Schönheitsflieger mit dem Gleitschirm, den Fotoapparat um seinen Hals gebunden, oder mit der Drohne, ihn vom Boden aus bedienend. Und wie Ueli Bärfuss einst, sprach er zu mir jüngst: «Gut, Bub, dann steig halt ein.» Seine Flugreise aber geht kommod vom Sofa aus, kein Krach, kein Beben. Auf dem Tisch ein grossformatiges Buch mit 177 Fotografien auf die Schweiz von oben. Seite um Seite geht es über Land, in die Höhe, ins Gebirge – wie einst mit Ueli Bärfuss, aber ohne Krach. Der Fotograf ist draussen bei Wind und Wetter. Geduldig wartet er auf den richtigen Augenblick – Wetter und Licht müssen stimmen, sein Bildgefühl muss ihm sagen: «Ab- drücken» und aus dem Apparat kommt ein Bild des richtigen Moments, der nun gilt für immer. Zur Lektüre der vielen richtigen Augenblicke von Andreas Busslinger hat Swiss- topo die «Zeitreise» der Schweizer Landestopografie als Geländer eingerichtet. Da sind die Landeskarten von über 150 Jahren aufgereiht und mit Knopfschieben können wir im abstrakten Kartenbild schauen, wie sich die Schweizer Landschaft verändert hat. Und so können wir Busslingers Momenten einen Anker im Lauf der Zeit geben. Freilich sehen wir, was wir wissen – zwei Generationen haben das Land so verändert, wie es alle ihre Vorgängerinnen seit der Eiszeit zusammen nicht fertig gebracht haben. Aber je grösser die Distanz des vertikalen Kamerablicks vom Erdboden wird, umso idyllischer werden die Veränderungen, die Verwundungen und die Zerstörungen. Installationen für Kläranlagen, Strassen, Kiesgruben und Eisenbahnen werden Gemälde kubistischer Maler; die aus der Nähe trostlosen Klötze an Dorf- und Stadträndern, mit denen die Architekten und Bauherren das Land seit zehn Jahren aufbrechen und zudecken, sind Verzierungen im Einerlei; die gnadenlose Wucht, mit der die Bauern die Landschaften ausräumen, sind je nach Jahreszeit andere Gemälde konkreter Malerinnen – bunte Flä- chen, die in den Primärfarben der Agroindustrie ineinander aufgehen: grün, braun und gelb. VOGELBLICK AUF DIE SCHWEIZ
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